Das Erleben dieses Lockdowns ist beinahe unaushaltbar divers geworden. Ich spreche mit einer Freundin, die auf der Intensivstation arbeitet. Mit einem Freund in Barcelona, der schon vier Erkrankte in der Familie hat und sich Sorgen macht, ob es noch Platz in den Krankenhäusern gibt. Höre von Menschen, die Angehörige verlieren und allein begraben müssen. Davon, wo es zu Hause echt eng wird, weil niemand von außen mehr helfen darf. Von dem Restaurantbesitzer, der keinen Umsatz macht und für den undeutlich ist, wie lange es noch weiter geht. Und so weiter. Gleichzeitig ist der Lockdown eine willkommene Auszeit für manche. Menschen reagieren unterschiedlich, emotional bis rational, abwartend bis aktivistisch, Fokus auf Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, pessimistisch bis optimistisch.
Und so ist es gar nicht so einfach, den richtigen Ton zu treffen. Ich denke an die Zukunft, bin optimistisch – ist das adäquat? Oder ist es auch nur meine Strategie, mit dem, was erschreckend ist, umzugehen?
Leben nach dem Lockdown
Wie lange wird der Lockdown noch dauern? – Wohl noch einige Wochen. Jenseits der Pandemie und allen Bedrohungen liegt darin auch eine Chance, finde ich. Denn es entstehen in allem Schrecken auch viele positive Dinge. Neue Gewohnheiten, die wir uns erhalten sollten. Es gibt ja die magische Zahl der 40 Tage, die neue Gewohnheiten brauchen, um zu stabilen Handlungsmustern zu werden. Oder die klassischen sieben Wochen Fasten, passend zu Ostern diese Woche. Man könnte den Lockdown sich auch so denken, als „Reset“-Knopf, als Fastenzeit, die ihre Zeit braucht.
Ich stelle mir vor, wir hätten sieben Wochen. Wir sind ungefähr auf der Hälfte. An manchen Stellen muss der Hauptfokus jetzt das Krisenmanagement sein. An anderen Orten ist noch Raum für andere Themen. Eine Art produktiver Arbeitsteilung, wir kümmern uns um die Gegenwart, und um die Zukunft, die gerade entsteht.
Wer also den Raum hat, vorauszuschauen, könnte jetzt einen Plan machen, welche (positiven) Veränderungen in den nächsten Wochen noch realisiert werden könnten: Mehr Zusammenarbeit über Silo-Grenzen hinweg. Effizientere Arbeitsprozesse. Agiler, flexibler und schlagkräftiger werden. Mehr Energie für Innovation quer durch die Organisation. Eine Kultur des kontinuierlichen Lernens. Weitere Digitalisierung. – Um nur einen Ausschnitt aus den Fragen zu geben, mit denen wir uns in Projekten in den letzten Monaten vor Corona beschäftigt haben.
Es sind relevante Themen, und sie werden auch noch nach Corona relevant bleiben. Nur, die bisherigen Arten der Ausführung gehen im Moment nicht, sie scheitern einerseits an der profanen Realität der über ‘zig Home-Offices verteilten Kollegen. Man müsste den vorbereiteten Kick-off, den Workshop virtuell machen, das geht zwar, braucht aber anders. Andererseits hat allerorten das Krisenmanagement noch oberste Priorität, es gibt wenig mentalen Raum für die langfristigen Transformationsthemen.
Tag 0 stellt die Weichen
Dennoch, wie lange der Lockdown auch dauert, es wird der Tag kommen, an dem alle wieder ins Büro, in die Fabrik, den Laden kommen. Tag 0. An diesem Tag werden die entscheidenden Weichen gestellt, ob die Corona-Krise für uns nur das war, eine Krise, über die wir so schnell wie möglich wieder hinwegkommen wollen. Oder ob wir verstanden haben, was für ein unglaublich wirkungsvoller Transformationsimpuls ausgehen kann von dieser Zeit.
Was passiert an Tag 0? – Die Stimmung ist angespannt bis aufgeregt. Die Diversität des persönlichen Erlebens der letzten Wochen trifft aufeinander – Trauer, Schock, Erleichterung, Freude, alles kommt zusammen. Ehe man sich versieht, geht man über das persönliche Erleben hinweg. Man begrüßt sich, erzählt ein wenig, abtastend, um dann an seinem Arbeitsplatz zu schauen, ob alles noch so aussieht wie hinterlassen. Und dann nehmen alle, in kürzester Zeit, die Arbeit genauso wieder auf, wie vorher, als ob nichts gewesen sei. Es ist die unvermeidbare Schwerkraft des Bestehenden. Der Soziologe Erving Goffman hat dieses Phänomen dadurch erklärt, dass Menschen immer danach streben, kompetente Akteure zu sein. Um kompetent handeln zu können, brauche ich eine Definition der Situation, die auch festlegt, welche formelle und informelle Rolle ich hier habe, was adäquat ist, was sich gehört, und was auch nicht. Diese Schwerkraft des Bestehenden bietet genau das: Eine miteinander ausgehandelte Definition der Arbeitssituation, so machen wir das hier, und bietet damit Sicherheit.
Die Sicherheit hat ihren Preis – jede Neuerung arbeitet im Zweifel immer gegen die Schwerkraft an. Und genau hier liegt eben auch das Besondere des Lockdowns. Wir haben selten in solch einem Ausmaß improvisieren müssen, Situationen neu gestalten müssen, die Regeln neu ausdenken. Mein Sohn, der Hilfe bei den Hausaufgaben braucht und in meinen Videocall hineinplatzt: Vor wenigen Wochen noch ein Beispiel für Unprofessionalität meinerseits, jetzt zwar kurz störend, aber alle verstehen es, im Zweifel könnte es einem selber auch passieren.
Kollaterale Schönheit
Wer gut hinschaut, ohne das Erschreckende und das Leid zu ignorieren, entdeckt ein unerschöpfliches Angebot an kollateraler Schönheit an allen möglichen, teilweise überraschenden Stellen. Wer dann noch genauer schaut, kann für alle möglichen langfristigen Transformationsvorhaben in den letzten Wochen interessante erste Ansätze, Keimlinge entdecken. Zusammenarbeit über Silogrenzen hinweg? – Selten wurden die Kollegen von IT so wertgeschätzt wie in den letzten Wochen. Selten gab es so viel Solidarität, half man sich, sprang für einander ein. Neue Lernkultur? Digitalisierung? – Es wurde massiv gelernt, neue digitale Instrumente eingeführt, selbst das Teammeeting klappt beim fünften Mal im virtuellen Raum schon ganz gut.
Wer so schauen kann, hat verstanden, dass gerade massenhaft Erinnerungen an eine mögliche Zukunft geschaffen werden. Der sieht, was im Ansatz da ist von dem wünschenswerten Neuen, auch wenn es noch so klein und unscheinbar ist. Und hat damit schon halb gewonnen.
Die andere Hälfte liegt im Tag 0.
Eine Agenda für eine Erinnerung an die Zukunft
Ich schlage folgende Arbeitsteilung vor: Wir brauchen ein paar Leute, die sich um das Krisenmanagement kümmern. Unbedingt. Auch Leute, die dafür sorgen, dass die Arbeit weiter läuft. Und dann sollten sich ein paar Leute über Tag 0 Gedanken machen.
Meine Agenda für dieses Projekt wäre:
- Sehen, was entsteht: Ein Blick auf die letzten Wochen, mit Aufmerksamkeit für die positiven Abweichungen. In welchen konkreten Situationen sehen wir Ansätze für produktives neues Handeln, von dem wir mehr wollen? Wo tauchen Ideen auf, die wir größer machen wollen? Wo sind vielleicht Menschen, deren Talent auf einmal neu sichtbar wird? – Die Kunst ist, im Anfang, in der imperfekten, kleinsten Version und Ausprägung zu sehen, was daraus werden könnte, das Potenzial.
Zum Beispiel: Unter dem Eindruck der Krise wird bei einem Lebensmittelhändler die Neuerung in der Logistik weder dogmatisch durchgezogen noch durch die Läden blockiert, alle ziehen an einem Strang, um die Ware in die Regale zu bekommen. Gut ist, was funktioniert. Oder: Der kauzige Mitarbeiter, der schon jahrelang aus dem Home Office arbeitet, weil man ihn auch lieber nicht im Büro sehen wollte, bietet aus eigener Initiative Kolleg*innen kurze Tutorials zum Umgang mit den digitalen Instrumenten an.
In dieser Phase geht es um erste Eindrücke, Geschichten, Bilder, sehen, was da ist. - Analyse von Schlüsselmomenten: Was ist die Essenz aus diesem wünschenswerten Neuen in Entstehung? Und in welchen konkreten, alltäglichen Momenten könnte es sich noch zeigen, während des Lockdowns und danach?
In den genannten Beispielen: Logistik und Operations verfolgen nicht mehr die jeweils bereichsspezifischen Interessen, sondern finden sich im größeren Ziel. Es gibt auf einmal viel mehr Abstimmungsmomente, und in diesen Momenten spielt nur das gemeinsame Ziel eine Rolle. Das höhere Management belohnt das sich-Hinwegsetzen über alte Fehden. Oder: Der große Bedarf, die neuen Tools nutzen zu können, und der unbeabsichtigte Freiraum sorgen für effizientes, selbstorganisiertes Lernen, selbst der kauzigste Kollege stellt auf einmal sein Wissen zur Verfügung.
In dieser Phase geht es um Verstehen, die Analyse, was die Gelingensbedingungen für das Neue sind, und in welchen konkreten Momenten diese Bedingungen geschaffen werden. - Einladung an alle: Das Tag 0 – Team lädt, noch vor Tag 0, alle Kolleg*innen dazu ein, selber die obigen Schritte nachzuvollziehen. Dazu könnte man ein Instrument entwickeln, oder einfach nur ein paar Fragen stellen. Wichtig ist, dass alle dazu aufgefordert sind, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen – und dass das, was man sich über Corona hinaus bewahren will, so konkret wird, dass man es auch sofort tun kann. Dafür hilft das Denken in Schlüsselmomenten.
- Inszenierung von Tag 0: Das Tag 0 – Team schafft einen Rahmen, so dass sofort mit einem neuen Ton begonnen wird. Alle Teams haben im Vorfeld schon die erste Teamsitzung „neu“ entworfen, die ersten Arbeitsschritte. Wie sieht das Projekt-Update mit verschiedenen Abteilungen nach Corona ganz konkret aus, wenn wir es neu denken? Das Ziel: Die erste Version aller Schlüsselmomente ist an Tag 0 sofort anders.
In den Beispielen: Die Leute von Logistik und Operations treffen sich an Tag 0 und werten aus, was während Corona so gut geklappt hat. Man einigt sich, sich von den abteilungsspezifischen KPIs zu verabschieden. Und probiert aus, was passiert, wenn man das nächste Projekt im Corona-Stil gemeinsam angeht, man fängt einfach mal an. Oder: Tag 0 bietet auch noch ein Festival offener, selbstorganisierter Lernangebote.
Die Essenz hier ist: Tag 0 zu nutzen, um eine neue Erfahrung zu schaffen.
Tag 0 ist vielleicht die größte Chance für transformative Bewegung, die wir in diesem Jahrzehnt bekommen werden.
Wer macht mit, so dass wir sie auch nutzen?